“Nirgendwo und überall zu Haus”. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust

27. Januar – 29. März 2009

Fotografien von Monika Zucht

In den vergangenen Jahren reiste Martin Doerry kreuz und quer durch Europa und Amerika, um mit Menschen zu sprechen, die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten knapp entkommen sind.

Sie gehören zu den letzten Repräsentanten einer untergegangenen Welt des europäischen Judentums, und sie legen hier eindrucksvoll Zeugnis ab über ihre Geschichte, ihren Kampf ums Überleben und darüber, was es für sie bedeutet, Juden zu sein.

Die Fotografin Monika Zucht begleitet die Texte mit ausdrucksstarken Schwarzweißporträts.

Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Fotografien von Monika Zucht

Über die Ausstellung

Er sei “nirgendwo und überall zu Haus”, sagte der in Prag geborene jüdische Historiker Saul Friedländer in einem Gespräch mit dem stellvertretenden SPIEGEL-Chefredakteur Martin Doerry. Seine Worte gaben einem 2006 erschienenen Buch mit 24 Gesprächen den Namen. Es enthält Fragen an Überlebende des Holocaust, Fragen nach dem Ungeheuerlichen, nach der Hölle auf Erden – und sehr unterschiedliche Antworten darauf.

Den Namen des Buches trägt auch die Ausstellung mit den überwältigend intensiven fotografischen Porträts der Befragten. Aufgenommen hat sie die aus Jever stammende Fotografin Monika Zucht. Ihre Porträts zeigen nicht allein Gesichter, in ihnen ist Geschichte zu lesen, auch Lebensgeschichte. es sind Antlitze von Menschen aus Kultur und Wissenschaft mit bekannten und auch großen Namen, Elie Wiesel etwa, Ruth Klüger, Ralph Giordano, Imre Kertész, Inge Deutschkron, Alfred Grosser, Heinz Berggrün, Peter Gay, Saul Friedländer.

Die Frau, die dem Buch und der Einladung zur Ausstellung ihr Gesicht lieh, ist die mittlerweile verstorbene Prager Schriftstellerin Lenka Reinerová. So wie sie werden die letzten Überlebenden des Holocaust bald verstummt sein. Historiker, Nachgeborene müssen dann berichten. Werden kommende Generationen noch die Dimensionen dieses Jahrtausendverbrechens erahnen können, wenn kein KZ-Häftling, kein Emigrant mehr aus eigener Erfahrung erzählen kann?

Diese Frage hat Martin Doerry umgetrieben. Mit dem bewegenden Buch “Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944” hat er seiner in Auschwitz ermordeten Großmutter ein literarisches Denkmal errichtet. “Die Nachgeborenen”, sagt Doerry, “müssen den letzten Zeugen zuhören und deren Botschaften dann anderen vermitteln, auch wenn ein solches Unterfangen von Generation zu Generation schwieriger wird.”

Doerry und Monika Zucht reisten teils zusammen, teils unabhängig voneinander, in die USA und in viele Länder Europas, um solche Botschaften in Wort und Bild einzufangen, um sie weiterzugeben. Stationen der Foto-Ausstellung waren bisher das Berliner Willy-Brandt-Haus, die Hamburger Deichtorhallen, die Münchner Bücherschau, die Prager Wirtschafts-Universität, die ehemalige Synagoge in Rendsburg, das Stuttgarter “Theaterhaus” und das Landgericht Lübeck.

Zu den bisherigen Ausstellungs-Eröffnungen war jeweils einer der Befragten des Buches anwesend. In Jever wird Martin Doerry eine für diese Stadt ganz besondere Zeitzeugin befragen können: Renate Bechar aus Tel Aviv. Sie wurde 1932 geboren als Tochter des letzten Leiters des jüdischen Waisenhauses in Pankow, Kurt Crohn. Renate Crohn hat zusammen mit ihrer Mutter Susanne das Lager Theresienstadt überlebt. Das Schicksal verschlug Mutter und Kind im Jahr 1945 nach Heidmühle, wo Susanne Crohn zunächst als Dolmetscherin, dann als Sekretärin des Bürgermeisters Anstellung fand. Renate wurde mit 13 Jahren im Mariengymnasium Jever eingeschult, das sie bis zu ihrer Emigration nach Israel 1949 besucht hat.

Kurt Crohn hatte seiner Frau und der Tochter, bevor die Wege der Familie sich trennten, diese Worte mitgegeben: “Ein kleiner, heiliger Rest der europäischen Juden wird überleben, um der Nachwelt zu berichten, was dem jüdischen Volk angetan wurde.”

Renate Bechar geborene Crohn hatte das Glück, zu dem “kleinen, heiligen Rest” zu gehören. Berichten wird sie im Gespräch mit Martin Doerry.

Das wird am 27. Januar 2009 geschehen. Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Renate Bechars Vater war dort ebenso inhaftiert wie Martin Doerrys Großmutter. Den Tag der Befreiung haben beide nicht erlebt.

Martin Doerry, geboren 1955, ist promovierter Historiker und studierte in Tübingen und Zürich. Seit 1998 ist er Stellvertretender Chefredakteur des Spiegel.

Monika Zucht, geboren 1945, war von 1969 bis 2006 Fotografin für Titelbilder und Reportagen im Spiegel-Verlag.

Martin Doerry: Nirgendwo und überall zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Mit Fotografien von Monika Zucht. Hardcover: 264 Seiten, 39,90 €. Taschenbuch: 12,- €