Ein “Safety”-Niederrad aus den 1880er Jahren [12]

fahr1Safety-Niederrad mit Vollgummibereifung und Kerzenlaterne. Um 1880/90. Gesamtlänge 180 cm, Rahmenhöhe 81,50 cm.

Mit diesem Rad, das unseren heutigen Fahrrädern sichtlich schon eng verwandt ist, kann das Schloßmuseum einen wichtigen Schritt in der Entwicklungsgeschichte des Fahrrades dokumentieren. Unser Rad gehört dem Jeveraner Walter Baumfalk, der es bis zum Jahre 1976 auf Festumzügen fuhr und danach dem Museum als Dauerleihgabe zur Verfügung stellte.

Ursprünglich stammt es aus dem Besitz seines Großvaters, des Friedeburger Bauunternehmers und Zimmermanns Anton Oltmanns. Der hatte wohl damals das einzige Rad im Ort, und seine Zeitgenossen müssen ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Spott betrachtet haben. Einerseits war ein Rad nicht gerade billig. Der Preis lag um 1883 bei 4-500 Reichsmark, der Monatslohn eines Facharbeiters dagegen bei ca. 110 RM. Andererseits war es wirklich noch ein kleines Abenteuer, sich mit den Vollgummireifen (die Luftbereifung erfand erst 1889 der Tierarzt John Boyd Dunlop) auf das holperige Pflaster oder die ausgefahrenen Sommerwege zu wagen. Auch mußte jeder Fahrer sein eigener Mechaniker sein, denn Werkstätten waren rar, Ersatzteile auch, und der Dorfschmied stand oft ratlos vor der fremden Maschine. Bei komplizierten Reparaturen war es daher nicht unüblich, das komplette Rad nach England zu schicken.

Der folgende Auszug aus einem Text von Kurt Schwitters (1887-1948) schildert anschaulich die Schwierigkeiten beim Radfahren:

“Nun ging’s in den Wald… Der Weg hieß ‘Radfahrweg’, aber es war nichts als ein schmales langes Sandfeld. Der Sand war so locker, das mein Rad bis zur Kette einsank. Meine drei Freunde fuhren unmittelbar vor mir, und dauernd stieß mein Vorderrad auf das Hinterrad von meinem Freunde. Und mit einem Male ging es Ruck-Zuck, und wir lagen beide im Sande. Von meinem Vorderrade waren zehn Speichen losgebrochen… Ich drehte die abgebrochenen Speichen vollends heraus, und es ging immer noch ganz gut. Zwar war nun das Hinterrad windschief geworden und wetzte sich an der Kette, aber nicht immer, sondern nur bei jeder Umdrehung… Das eine Pendel hatte offenbar Sand an die Achse bekommen, denn es knackte und drehte sich nur ausnahmsweise mal. Gottseidank fehlte das andere Pedal vollkommen…” (Radfahrbuch 1985: 40).

Trotz all dieser Widrigkeiten scheint das Rad von Anton Oltmanns die Zeitläufte gut überstanden zu haben, denn es ist fast komplett und in gutem Zustand erhalten. Leider ist aber der im Originalzustand grüne Rahmen mit schwarzer Farbe überpinselt worden, und die schönen vernickelten Teile bedeckt eine dicke Schicht Silberbronze, so daß viele der technisch interessanten Details verdeckt werden. Leider, denn unser Rad hat nicht nur kulturgeschichtlich etwas zu bieten, sondern auch dem an der Fahrradtechnik Interessierten. Da ist erst einmal der Rahmen, das “Herz” jeden Rades, in der noch heute üblichen “Diamant”-Form, hier aber mit doppeltem Sitzrohr. Die “Diamant”-Rahmen haben sich durchgesetzt, weil sie mit dem geringsten baulichen Aufwand ein Höchstmaß an Stabilität verbinden. Die Rohre sind ohne Muffen aneinandergeschweißt, die Ausfallenden sauber eingepaßt. Es finden sich eine Anzahl von Anlötteilen, so für die Bremse, den Lampenhalter, die Fußrasten an der Gabel usw. Alles in allem zeigt dies eine ausgereifte Konstruktion.

Nun mußten die Erbauer aber nicht bei “Null” anfangen, denn vorher gab es ja auch schon Fahrräder: die “Hochräder”. Das sind die uns heute antiquiert erscheinenden “Gestelle”, die wir zuerst mit den Kindertagen des Fahrrades assoziieren, gelenkt von steif sitzenden Herren mit “Kaiser-Wilhelm-Bärten”. Und wirklich beherrschte das “Ordinary”, wie es in England genannt wird, bis ca. 1885 den Fahrradmarkt. Dann aber hatten sie sich überlebt. 1891 betrug der Anteil der Hochräder am Markt noch ganze 3,3 %, der des Niederrades dagegen bereits 87 %. Gründe dafür waren die große Geschicklichkeit, die die Beherrschung des Hochrades erforderte (schon das Aufsteigen in luftige Höhen von 2 m glich einer akrobatischen Übung), sowie die hohe Zahl von schweren Unfällen, Kopfstürzen zumeist, wenn der Fahrer gegen selbst kleinste Hindernisse stieß. Folgerichtig wurde das Hochradfahren oft polizeilich verboten, so z. B. in Wien am 12. Juni 1870. Auch ließ das Hochrad eine Steigerung der Geschwindigkeit nur über das Vergrößern des Vorderrades zu, bis zu dem Punkt, wo auch der Fahrer mit den längsten Beinen vor Rädern mit 160 cm Durchmesser (!) kapitulieren mußte.

All dies ließ die Erfinder nicht ruhen, und so entstand um 1885 das “Safety” der englischen Rover-Company. Das Revolutionäre an diesem Fahrradtyp stellte weniger die Verkleinerung des Vorderrades, sondern eher die Verlegung der Kraftübertragung auf das Hinterrad dar, was die Möglichkeit schuf, die Übersetzung beliebig zu ändern. An unserem Rad zählt das vordere Kettenrad 18, das hintere 10 Zähne. Bei jeder Kurbelumdrehung macht das Hinterrad also 1,8 Umdrehungen (heutige Räder haben eine Übersetzung von ca. 2,4). Verbunden sind die Kettenräder durch eine Rollenkette, deren Kettenglieder 1 Zoll (25,4 mm) messen. Diese sehr groben Ketten hatten zwar einen rauhen Lauf, waren aber robust und unanfällig gegen Verschmutzung.

fahr2Fahrradangebote in Jever um 1900. Anzeige aus dem Jeverschen Wochenblatt vom 13. Dezember 1899.

Eine Besonderheit zeigt das Tretlager: Die Grundkonstruktion mit kugelgelagerter Achse und Keilbefestigung der Kurbeln ist auch heute noch aktuell, die Kurbeln weisen lediglich ein Langloch auf anstelle des Gewindeauges für die Pedale. So war es möglich, die Kurbellänge durch Verschieben der Pedale von 130 mmm bis zu 170 mm zu verändern und das Rad den unterschiedlichen Beinlängen optimal anzupassen. Die Pedale sind ebenfalls kugelgelagert (keine Selbstverständlichkeit, denn nur einige Jahre vorher mußten sich die Fahrer noch mit kraftraubenden Gleitlagern herumquälen) und zeigen Ölbohrungen, denn Fettschmierung war damals unüblich. Der Fahrer war also gut beraten, stets ein Ölkännchen mitzuführen, um ein Trockenlaufen der Lager (mit üblen Folgen) zu verhindern. Dennoch endeten viele Fahrten vorzeitig durch zerbrochene Kugeln; die Zuverlässigkeit heutiger Räder war einfach noch nicht erreicht.

Ein Bauteil, die Bremsen nämlich, mußte schon damals sicher funktionieren, hing doch Wohl oder Wehe des Fahrers davon ab. So ließ sich der Konstrukteur unseres Rades auch auf keine Experimente ein und stattete es mit einer soliden Klotzbremse aus, die über ein Gestänge direkt auf den Vorderreifen wirkt. Am Hinterrad sorgt die starre Übersetzung für Verzögerung. Wer bremsen will, “kontert” einfach, indem er die Beine nicht nur mehr mitdrehen läßt, sondern gefühlvoll dagegen drückt. Für uns ist diese Methode ungewohnt, denn wir profitieren alle von der Freilaufnabe mit Rücktrittbremse, die E. Sachs im Jahre 1900 vorstellte. Die Laufräder haben einen Durchmesser von 30 Zoll, tragen vorne 32, hinten 40 dicke Speichen, die radial zur Nabe laufen und dort im Flansch verschraubt sind. Die Vollgummireifen sind solide, aber schon zum Aussterben verurteilt: Hat die Luftbereifung 1890 noch einen Anteil von 1,2 %, so liegt er 4 Jahre später schon bei 90 %.

Eine zierliche Kerzenlaterne mit Reflektor, die wohl eher dem Gesehenwerden als dem Sehen diente, vervollständigt das Rad. Von den ursprünglichen Schutzblechen ist nichts geblieben, dafür kann man noch den urtümlichen Ledersattel bewundern, mit drei Federn ausgestattet, was auf den damaligen Straßen kein Luxus war.

Und doch, trotz aller Mängel und Strapazen, muß wohl ein Radfahrer schon damals so gefühlt haben, wie Richard Dehmel (1863-1920) es in seinem Gedicht “Radlers Seligkeit” beschreibt:

“Wer niemals fühlte per Pedal,
dem ist die Welt ein Jammertal!
Ich radle, radle, radle”
(Radfahrbuch 1985: 18).
Thorsten Oltmer

Literatur:
Fahrradkultur I: Der Höhepunkt um 1900. Hrsg. von Hans-Erhard Lessing. Reinbek 1982
Gronen, Wolfgang u. Walter Lemke: Geschichte des Radsports und des Fahrrads. Eupen 1978
Das Radfahrbuch: Gedichte, Erzählungen, Bilder. Hrsg. von Karl Riha. Darmstadt 1985
Sharp, Archibald: Bicycles and Tricycles. An elemantary treatise of their design and construction. Cambridge 1982 (Reprint der Ausgabe London 1896)
Timm, Uwe: Der Mann auf dem Hochrad. Legende. Köln 1984

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