Ein Brautkleid der Jahrhundertwende [13]

braut1aAbb.1: Brautkleid. Cognacfarbene Seide, Jeverland um 1880/90, Länge 160 cm.

“In seiner neuesten Form erscheint das Empiregewand äußerst schlank und nur wenig faltig, was dadurch bewirkt wird, daß der leicht schleppende Rock sich entweder glatt oder nur leicht gereiht dem ziemlich kurzen Leibchen ansetzt. Da jedoch der Unterkörper durch die stark verkürzte Taillenlinie meist übermäßig lang erscheint und die vorn und im Rücken gleichmäßig hohe Taillengürtung wenig elegant wirkt, so zeigen die Empirekleider neuesten Datums den Rockansatz nach hinten stark aufsteigend, vorn aber nur wenig über normalen Taillenschluß, wodurch sie bedeutend schicker als ihre Vorläuferinnen aussehen. Die Leibchen sind meist faltig arrangiert und in Übereinstimmung mit dem durch Schlichtheit und schöne Linienführung wirkenden Rock nur mäßig garniert. Eins dieser geschmackvollen Empiregewänder repräsentiert unser schönes Modell Nr. 5513.” (Vgl. dazu Abb. 2).

In Sachen Mode war man im Jeverland der Jahrhundertwende offensichtlich am “Puls der Zeit”. Das beweist dieser Auszug aus der weihnachtlichen Unterhaltungsbeilage zum Jeverschen Wochenblatt vom 23. Dezember 1906. Ob unser Objekt des Monats nun auch auf Anregung durch einen derartigen Artikel angeschafft wurde, ist ungewiß, zumal die Datierung des Kleides Schwierigkeiten birgt.

Trägerin dieser Robe war Frau Rienelt-Clasina Bremer, geb. Müller aus Neu-Friederikengroden. Sie wurde am 16. August 1870 in Neu-Augustengroden geboren. Ihre Hochzeit war am 24. April 1888. Auch wenn man nicht mit Sicherheit sagen kann, ob es sich bei diesem Objekt um das Hochzeitskleid der erst siebzehnjährigen Braut handelt – die modische Linie entspricht eher dem Stil des frühen 20. Jahrhunderts -, so ist dieses Kostüm doch als historisches Brautkleid vorstellbar. Frau Bremer, die die Wäsche ihrer Aussteuer selber genäht hat, trug dieses Kleid jedenfalls noch mehrmals zu festlichen Anlässen.

Das ungefütterte Kleid hat eine Länge von 160 cm und ist aus Seide gefertigt, deren Farbton etwas an diejenige von Cognac oder Milchkaffee erinnert und als dunkle “Isabellfarbe” bezeichnet werden kann. So heißt wenigstens ein graugelber bis gelbbrauner Farbton, dessen Bezeichnung auf die spanische Infantin Isabelle zurückgeht, die 1601 bei der Belagerung Ostendes geschworen haben soll, ihr Hemd nicht eher zu wechseln, bis ihr Gemahl Erzherzog Albrecht von Österreich die Stadt erobert hätte. Das ist dann 1604 geschehen.

Ob Legende oder Wahrheit, der Farbton war im 19. Jahrhundert aktuell, und auch die schlanke Silhouette des Kleides entsprach ganz der neuen Mode um 1890. Oberteil und Ärmel sind relativ eng anliegend, der Rock aus vier Bahnen betont die Hüften kaum, nur die untere Rockhälfte ist weiter geschnitten und endet in einer Schleppe. Daß der Kleiderrock nicht nur nach hinten ausgestellt ist, sondern ringsum auf dem Boden liegt, ist durchaus beabsichtigt. Es galt als äußerst reizvoll, den Rock beim Gehen aufzunehmen und den raschelnden, spitzenbesetzten Unterrock sehen zu lassen. Dieser war oben eng anliegend geschnitten, um etwa in Höhe der Knie glockig und faltenreich aufzuspringen. Allerdings waren diese teuren Extravaganzen eher den festtäglichen Kleidern vorbehalten. Ein Korsett “ohne Bauch” war für ein solches Kleid ohnehin obligatorisch: Mit ihm wurde die “gerade Front” erreicht, die die Linie von der Seite her gesehen bestimmt. Dennoch erscheint dieses Kleid mehr den natürlichen Körperproportionen angenähert, wenn man es mit den großen glatten “Taillenpanzerungen” früherer Epochen vergleicht. In den tiefen spitzen Ausschnitt ist ein feines durchsichtiges Gewebe aus Maschinenspitze eingesetzt, das auch an den Unterärmeln aufscheint. So entsteht der Eindruck, es sei ein Untergewand. Der kleine Besatz des hochschließenden Kragens aus blauem und goldenem Band mit gefältelter Spitze kehrt am Ärmel wieder. Das Dekolleté wird asymmetrisch umrahmt von einem schmalen Schulterkragen unter zwei breiten, drapierten weißen Bahnen aus floraler Klöppelspitze mit Rosenmuster. Außerdem wird die rechte Seite betont durch ein mittelblaues Seidenband, das mit einem Ornament aus Bögen und Zacken in Goldschnur bestickt ist. Blattähnliche Motive sind mit Stickerei gefüllt.

Auch dieses blaue Seidenband taucht in fünf Falten gelegt als taillenbetonende Schärpe wieder auf. Ihre gleichfalls mit Goldschnur reich bestickten spitzen Enden fallen auf der Rückseite fast bis auf den Boden herab. Sie sind mit mehrfach geknoteten Kordeln mit Troddeln verziert. Auch Ärmel und Rockende sind mit einer vierteiligen Goldschnur besetzt. Die Ärmel sind seitlich spitz ausgeschnitten und mit blauem Band unterlegt. Besetzt sind sie mit drei blauen stoffüberzogenen Knöpfen auf blauer Kordel. Fünf solcher Knöpfe erscheinen auch seitlich an den Rocknähten. Die vierfachen Goldschnüre werden von den Knöpfen ausgehend vorne an der Ziernaht hochgeführt und enden schneckenförmig.

braut2aAbb. 2: Modisches Kleid des frühen 20. Jahrhunderts. Aus der Unterhaltungsbeilage des Jeverschen Wochenblattes vom 23.12.1906.

Dieser Besatz verrät bereits den Einfluß der Jugendstilornamentik, die florale und geometrische Motive kombiniert. Auch die Asymmetrie des Ausschnitts entspricht dieser Formensprache. Der Jugendstil liebte den Schwung der bewegten Linien. Nur Ärmelansatz und Taillenbund sind schwach in Falten gelegt. Ansonsten war man bemüht, den Stoff möglichst glatt zu halten, um die schlanke Figur zu stilisieren und den Glanz der Seide zur Wirkung zu bringen.

Die Linie erscheint besonders neu, wenn man sie mit der gründerzeitlichen Mode der 1880er Jahre vergleicht: Damals schwelgte man noch in aufwendigen, gerade barocken Besätzen und Drapierungen des Rockes über dem sogenannten ” Cul de Paris”, dem Gesäßpolster, das die typische Silhouette der Zeit prägte. Dieser Kleidungsstil wurde im Jahr 1888 allgemein aufgegeben. Der aufgenommene Schnitt unseres Kleides muß also “brandaktuell” gewesen sein.

Nunserer heutigen Vorstellung hat ein Hochzeitskleid weiß zu sein. Die Farbe verkörpert hier ein Symbol der Reinheit. Doch im Grunde sind weiße Brautkleider eine noch relativ junge Erscheinung. “Eine deutsche Braut des Mittelstandes trug 1750 bei der Trauung einen Rock von brauner, mit roten und gelben Blumen durchwirkter Seide und dazu eine Schnürbrust von grasgrünem Gros de Tours, mit Gold gesteppt. Am französischen Hof und in der vornehmen Gesellschaft trug das Brautpaar am Hochzeitstag Goldbrokat auf schwarzem Grund”, schreibt Max von Boehn.

Gänzlich weiße Brautkleider wurden in Modejournalen erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts vorgestellt. Zwar waren die Bräute auch schon vorher festlich angezogen, als Kleiderfarben aber dominierten dunkle bis schwarze Töne, vor allem im kleinbürgerlichen Bereich. Dabei spielten auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle, denn ein farblich gedecktes Kleid aus gutem Stoff konnte auch witerhin zu festlichen Anlässen getragen werden. So sieht man auf vielen bürgerlichen Hochzeitsfotos aus dem gesamten 19. Jahrhundert dunkel gekleidete Bräute, gelegentlich geschmückt mit einem weißen Schleier und dem Myrtenkränzchen. Ein hochweißes Kleid, das nur für einen Tag getragen wurde, muß damals von vielen als unnötiger Luxus angesehen worden sein, selbst bei reicheren Brautleuten, die sich den Fotografen leisten konnten. Weiße Brautkleider blieben im 19. Jahrhundert weitgehend dem Adel und Großbürgertum vorbehalten.

Wir können sicher sein, daß unser “Objekt des Monats” für die Trägerin einen wertvollen Besitz darstellte. Das ist wohl auch der Grund, warum das Kleid bis heute so gut erhalten blieb und kaum Benutzungsspuren aufweist. Historische Alltagskleidung, die – viel getragen und weniger hochwertig – meist schnell zerschlissen war, ist dagegen nur sporadisch überliefert. Sie wurde auch selten für sammelnswert erachtet. Viele der historischen Kostüme in den Schausammlungen der Museen stellten für ihre Besitzer eine kostbare Ausnahme dar. Und auch heutige Brautmoden können kaum eine Vorstellung geben vom Alltagsleben ihrer Trägerinnen.

Das aufwendige Hochzeitskleid der Jahrhundertwende unterstreicht die Besonderheit des festlichen Anlasses. Daß die Trägerin sich bei der Wahl ihres Kleides an der Zeitmode orientierte, verrät ein gewisses “stadtbürgerliches” Bewußtsein. Im ländlich-bäuerlichen Bereich war man im 19. Jahrhundert vielerorts eher einem regional gefärbten Kleidungsstil verpflichtet, ein Stil, der sich mit dem Begriff “Tracht” allerdings nur annäherungsweise beschreiben läßt, denn auch reiche Landbewohner orientierten sich mehr oder minder an der städtischen Mode. Dies ist im wirtschaftlich florierenden und relativ fortschrittlichen Jeverland stets der Fall gewesen. Auch in dieser Hinsicht erweist sich unser “Objekt des Monats” als verläßlicher Indikator, als regional gültiger Beleg für gesellschaftliche Vorstellungen und Wertmaßstäbe.
Michael Baumgart

Literatur:
Boehn, Max von: Die Mode. Eine Kulturgeschichte vom Mittelalter bis zum Jugendstil. Bd. 2. München 1986
Hansen, Henny Harald: Knaurs Kostümbuch. München; Zürich 1954
Loschek, Ingrid: Reclams Mode- und Kostümlexikon. Stuttgart 1988

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