Ein Badeanzug für Wangerooge [63]

badeanzugEinteiliger Damen-Badeanzug, Rote und weiße Baumwolle, Ostfriesland, um 1910

Zur Toilette
Von Dr. J. Hertz.
Kein weibliches Wesen von sittlicher Bildung sollte sich einer Mode anbequemen, welche seine Reize in einer das Zartgefühl verletzenden Weise hervorhebt. Nie wird ein Herz auf diesem Wege erobert, höchstens niedere Leidenschaft vorübergehend entfesselt, fast unvermeidlich aber die Achtung verscherzt und der Glaube an die im Weibe auf jeder Lebensstufe unantastbare innere Jungfräulichkeit untergraben. Die Wahrheit dieser Behauptung bekräftigen die spöttischen Mienen, die strengen, abfälligen Urteile jedes unverdorbenen Mannes, der sich von derartigen Schaustellungen entschieden abgestoßen fühlt.
In: Kochschule und Ratgeber für Familie & Haus, 11. Juli 1903, Beilage zum “Schweiz. Familien-Wochenblatt“, Verlag Th. Schröter, Zürich.

Dieser Badeanzug aus dem Bestand des Schlossmuseums war im Besitz einer Ostfriesin, die 1888 in Haxtum geboren wurde. Der Konfektionsgröße nach zu urteilen hat sie ihn als Erwachsene getragen. Vergleicht man den modischen Schnitt mit anderen genauer datierten Badeanzügen entweder am Original oder auf Postkarten, kommt man zu einer relativ genauen zeitlichen Einordnung zwischen 1905 und 1910. Nach mündlicher Überlieferung soll sie ihn auf Ausflügen am Strand von Wangerooge getragen haben.

Besonders hervorstechend ist das knallige Rot, das durch einen starken Kontrast mit den hellen Teilen besonders zur Geltung kommt. Der Badeanzug ist 120 cm lang und aus mehreren Bahnen köperbindiger rot gefärbter Baumwolle zusammengesetzt. Der V-förmige Halsausschnitt endet in einem weißen Matrosenkragen. Auch die Arm- und Beinlöcher werden mit einem weißen Zierband betont, die Waden werden von Volants verdeckt. Der Einstieg mit vier cremefarbenen Knöpfen, die möglicherweise aus Kunststoff hergestellt sind, befindet sich an der Vorderseite. Besondere modische Raffinesse beweist die weiße Krawatte und der schmale helle Gürtel. Der kleine farblich kontrastierende Matrosenkragen – diese Kragen kamen bereits 1887 in Mode – unterstreicht den maritimen Charakter der Schwimmkleidung.

Mit der Entwicklung des Strand- und Badelebens veränderte sich auch die Bademode. Bis in die 1860er Jahre trugen Frauen wärmende Badehemden aus schwerem Wollflanell, die zum Teil mit unförmigen Sackhosen kombiniert wurden. Die Frauen verschwanden zum Baden – vor unstatthaften Männeraugen geschützt – in so genannte Badekarren. Nachdem man diese mit Straßenkleidung betreten und sich umgezogen hatte, bugsierte ein Badediener die Häuschen mit einem Pferdegespann ins Wasser. Von der hinteren Tür ließ man sich dann ins Wasser gleiten. Ein an der Karre befestigtes Tau diente den Nichtschwimmern als Halteleine. Zu dieser Zeit konnten die meisten Frauen der besseren Gesellschaft nicht schwimmen, es wurde nur gebadet. Gelegentlich mussten die Frauen wegen zu schwerer Badekleidung gerettet werden. In den folgenden Jahrzehnten bis 1900 setzte sich die Bademode aus einem waden- bis knöchellangen Beinkleid, das häufig wie auch dieser rote Badeanzug unten abgebunden war, und einer vorn durchgeknöpften und gegürteten Bluse mit Schoß zusammen. Darunter trugen die Frauen ein Korsett und schwarze Kniestrümpfe. Der Teint des Dekolletées wurde mit einem Halsring vor Sonneneinstrahlung geschützt, eine Badehaube vervollständigte das Outfit. Die ganze Prozedur war recht beschwerlich, denn es kam hinzu, dass die Perkall- und Flanellstoffe langsam trockneten, schnell verfilzten und im Wasser färbten. Dehnbarer Trikotstoff wurde zwar schon 1903 von der amerikanischen Schwimmerin Annette Kellerman entwickelt, aber erst in den 20er Jahren richtig populär.

postkarte1921Postkarte, “Nordseebad Wangeroog, Strand bei Ebbe”, Poststempel 8.8. 1921, Archiv Schlossbibliothek

Nach wie vor erschien man am Strand der Nordseebäder in voller Montur, das heißt in normaler Straßenkleidung mit Hut, Handschuhen und Sonnenschirm. Wenn man baden wollte, besuchte man die nach Geschlechter getrennten Badestrände. Man tauchte ein und unter, spielte mit den Wellen, verlor aber nie den festen Boden unter den Füßen. Erst kurz vor der Jahrhundertwende wurde Schwimmen als “Ideal einer gymnastischen Übung” entdeckt. Die rhythmischen Bewegungen, die nach allen Richtungen frei seien, förderten die Gesundheit und den Geist. Auch der Brandung wurde besondere heilende Wirkung zugemessen.

1908 beschloss der Gemeinderat Wangerooges für die anstehende Saison die Einrichtung eines Familienbadestrandes, nachdem Westerland und Helgoland außerordentlich gute Erfahrungen damit gemacht hatten. Befürchtete Verstöße gegen Anstand und Sittsamkeit blieben aus.

Auch die Bremer Weser-Zeitung berichtete durchweg positiv. Einzig die Wahl der Stoffe und Schnitte für die Badeanzüge der auswärtigen Gäste entsprach noch nicht ganz dem eigenwilligen Geschmack der Insulaner:

In der Theorie mag der Gedanke des gemeinsamen Badens beider Geschlechter im ersten Augenblick Manchem vielleicht ungewöhnlich erscheinen: in der Praxis schwinden aber sofort alle Bedenken, sobald man dieses harmlose, natürliche Familienbild mit eigenen Augen beobachtet […]. Irgend ein störender Zwischenfall hat sich niemals ereignet. Auch ist das Auftreten zweifelhafter Elemente niemals beobachtet worden […]. Der Verkehr der Badenden untereinander im Wasser sowohl wie am Strande muß als ein absolut tactvoller und discreter bezeichnet werden. Allerdings wurde den Badeanzügen stets große Aufmerksamkeit gewidmet. Zu hellfarbige oder durchsichtige Stoffe sowie zu stark decolletierte Costüme, welche fast durchweg von den Besitzern in völliger Unkenntnis der gegebenen Verhältnisse von auswärts mitgebracht waren, wurden in rücksichtvoller Weise zurückgewiesen […]. Eigenartig ist auch die Rolle, welche dem kräftigen Wellenschlage […] zugewiesen ist. Er erhöht nicht nur das Badevergnügen in außerordentlicher Weise, sondern giebt auch jedem Badenden mit sich selbst so viel zu schaffen, dass irgendwelche Nebengedanken überhaupt nicht aufkommen können.. (Bremer “Weser-Zeitung” 1902, Nr. 932)

postkarte1905-1914Postkarte, “Nordseebad Wangeroog, Familienbad”, ca. 1905-1914, Archiv Schlossbibliothek

Relativ spät zu den übrigen ostfriesischen Inseln erlebte Wangerooge seine erste Blüte zwischen 1890 und 1914, denn es hatte einen verhältnismäßig schlechten Ruf. Es hieß, die Insel sei nicht vielmehr als eine Sandbank und erschrecke die modernen Badegäste mit primitiven Unterkünften, in denen nicht mal Lesezimmer vorhanden seien. Seebad darf sich Wangerooge, das als einzige ostfriesische Insel seit dem 18. Jahrhundert zu Oldenburg und nicht zu Ostfriesland gehört, bereits seit 1804 nennen, seit der Inselvogt Ammann die Regierung in Anhalt-Zerbst veranlasst hatte, die ersten Badekutschen und Badezelte zu stiften. Doch die Silvesterflut von 1854 richtete auf der Insel so großen Schaden an, dass die Insulaner auf das Festland nach Horumersiel evakuiert werden mussten. Badegäste konnten nicht mehr empfangen werden. Erst nach der endgültigen Aufgabe des Westdorfs 1863 und der Errichtung eines neuen Ortes im Osten der Insel, belebte sich der Badebetrieb aufs Neue. Seit 1896 erleichterte ein zwischen Wilhelmshaven und Norderney pendelnder Bremer Dampfer die An- und Abreise zur Insel. Im folgenden Jahr wurde erstmals eine gesetzliche Kurtaxe erhoben, wofür die Insel ihren Badegästen neu erbaute Einrichtungen wie Trink- und Wandelhalle, Kurhaus, Parkanlagen und Promenaden bot. Im Jahr 1900 war die Insel dann zum ersten Mal total ausgebucht. Man schätzte neben den guten Erholungsmöglichkeiten auch die vortreffliche Sicht auf das preußische Säbelrasseln zur See, das vom Kriegshafen Wilhelmshaven aus veranstaltet wurde.
Karin Kuppig

Literatur:

Bengen, Etta / Wördemann, Wilfried: Badeleben. Zur Geschichte der Seebäder in Friesland, (= Kataloge und Schriften des Schlossmuseums Jever, H. 6), Oldenburg 1992.
Corbin, Alain: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste 1750-1840, Berlin 1990.
Kimpel, Harald / Werckmeister, Johanna: Die Strandburg. Ein versandetes Freizeitvergnügen, Marburg 1995.
Loschek, Ingrid: Reclams Mode- und Kostümlexikon, Stuttgart3 1994.
Prignitz, Horst: Wasserkur und Badelust. Eine Badereise in die Vergangenheit, Leipzig 1986.
Riedel, Karel Veit: Zwei Jahrhunderte Seebadewesen in Deutschland. Ein Beitrag zur Kultur- und Medizingeschichte im nordwestdeutschen Insel- und Küstenraum mit Exkursen, (= Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft für Meeresheilkunde e.V. Heft 16), Norderney 1991.
Thiel, Erika: Geschichte des Kostüms. Die europäische Mode von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wilhelmshaven7 1987.

© Schloßmuseum Jever