Schmollmund und Schlummeraugen – Zwei Schildkröt-Puppen aus den 50er Jahren [77]

Die fünf “Schildkröt-Kinder”, zu denen diese beiden Puppen gehören, waren jahrzehntelang die meistverkauften Puppen auf dem deutschen Spielzeugmarkt. Die Entwicklung ihrer Gestaltung zeichnet nach, wie das sich im Laufe der Jahre verändernde Schönheitsideal ebenso wie technische Neuerungen im Spielzeugdesign spiegelten. 1933 wurden die ersten beiden Modelle “Inge” und “Hans” als Marke angemeldet, “Strampelchen” kam 1935 hinzu. 1937 folgten schließlich “Bärbel” und “Christel” bzw. “Christian” – letztere Puppe konnte jeweils als Junge oder als Mädchen angezogen werden.

Zwei Schildkrötpuppen – links im Bild die Babypuppe 'Strampelchen' (50cm), rechts die Stehpuppe 'Inge' (64 cm), beide um 1955.
Zwei Schildkrötpuppen – links im Bild die Babypuppe “Strampelchen” (50cm), rechts die Stehpuppe “Inge” (64 cm), beide um 1955.

Schildkrötpuppe “Strampelchen”

'Strampelchen' hat Schlafaugen mit Echthaarwimpern und wurde ursprünglich mit einem Schnuller ausgeliefert, der bei dieser Puppe nicht mehr erhalten ist.
“Strampelchen” hat Schlafaugen mit Echthaarwimpern und wurde ursprünglich mit einem Schnuller ausgeliefert, der bei dieser Puppe nicht mehr erhalten ist.

Das Puppenbaby “Strampelchen” ist eine Spielpuppe für Kinder. Im Nacken und auf dem Rumpf ist sie mit der Hersteller-Marke der “Rheinischen Gummi- und Celluloidfabrik”, der Schildkröte in einer Raute, gemarkt. Der Rumpf ist unter der Marke zusätzlich mit “Tortulon” sowie mit der Größe in cm beschriftet. Das Material Tortulon wurde ab 1953 in Zusammenarbeit mit Käthe Kruse entwickelt und von Schildkröt als Ersatz für das leicht brennbare Zelluloid vermarktet.

Schon seit der Gründung 1873 stellte die “Rheinische Hartgummi-Waren-Fabrik” Waren aus Zelluloid her, seit 1896 auch Puppen. Damit ist der Nachfolger, die “Schildkröt Puppen- und Spielwaren GmbH” der einzige deutsche Puppenhersteller, der seit dieser Zeit durchgängig produziert. Im Gegensatz zu bis dahin üblichen Materialen wie Porzellan, Holz oder Leder konnten Hersteller wie auch Schildkröt damit werben, dass Zelluloid “abwaschbar, farbecht, hygienisch und unzerbrechlich” war. Allerdings verwittert Zelluloid mit der Zeit und kann mit Stoffen aus der Umgebung reagieren, weshalb Puppen eventuell unansehnlich werden. Außerdem stellt das Material ein massives Sicherheitsrisiko dar, da es leicht brennbar und unter Umständen sogar explosiv sein kann. So hatte die Produktionsstätte in Mannheim/Neckarau unter den Anwohner*innen den Spitznamen “die Knall”.

Beide Puppen haben die für die Schildkröt-Kinder typischen modellierten Haare sowie Schlafaugen mit Echthaarwimpern. Bei der Babypuppe funktionieren der Augen-Mechanismus und die Stimme nicht mehr, wenn man die Puppe bewegt. Der rosafarbene gestrickte Strampelanzug ebenso wie Jacke und Kappe gehören nicht zur ursprünglichen Ausstattung, sie sind etwas zu groß für den Puppenkörper – möglicherweise handelt es sich um Erstlingskleidung für ein echtes Baby. Arme und Beine haben im Gegensatz zu den frühen “Strampelchen”-Modellen aus den 30er Jahren Kugelgelenke.

Das Modell stammt wahrscheinlich aus der Mitte der 1950er Jahre, da “Strampelchen” vorher aus Zelluloid hergestellt wurde, diese Puppe aber aus dem neueren Material “Tortulon” besteht. Ein nahezu identisches Modell wurde 1958 mit einer “Windelhose” (laut Werbung von Schildkröt) und einem Schnuller verkauft.

Bereits 1929 ging das Unternehmen in der I.G. Farben auf und wurde nach 1933 arisiert. Der letzte verbliebene jüdische Aufsichtsrat Richard Lenel war Nachfahre der Firmengründer Victor und Alfred Lenel. 1938 wurden seine Söhne während der November-Pogrome ins Konzentrationslager Dachau verschleppt und der Vater gezwungen, nach England zu flüchten. Dementsprechend wurde auch die Produktion in den 1930er Jahren gleichgeschaltet und an die NS-Ideologie angepasst. Erst seit 1965 führt die Firma “Schildkröt” auch im Firmennamen.

Schildkrötpuppe “Inge”

Die 'Inge'-Puppe hat noch intakte Schlafaugen, die Farbe der Haare ist etwas berieben. Dieses Modell war eine der teuersten Puppen aus dem damaligen Schildkröt-Katalog.
Die “Inge”-Puppe hat noch intakte Schlafaugen, die Farbe der Haare ist etwas berieben. Dieses Modell war eine der teuersten Puppen aus dem damaligen Schildkröt-Katalog.

Im Gegensatz zu “Strampelchen” ist “Inge” eine Stehpuppe, die ein Kleinkind darstellt. Sie hat goldbraun schimmerndes, modelliertes Haar und braune Schlafaugen. Bemerkenswert ist die Hintergrundgeschichte: Anlässlich der Olympiade 1936 warb der Hersteller für eine “Olympia-Puppe” – wahrscheinlich handelte es sich um eine Sonderedition der “Inge”, mit ihren blauen Augen und dem blonden Haar entsprach die Puppe dem völkischen Ideal der NS-Diktatur.

Der Modelleur Franz Döbrich entwarf die gesamte Reihe der “Schildkröt-Kinder”, die am leichtesten an ihrer Frisur unterschieden werden können. Bei “Inge” war das eine am unteren Hinterkopf eingeschlagene Rolle. Teil der Werbekampagne des Herstellers war unter anderem eine als Bilderbuch gestaltete Broschüre “Olympia im Puppenreich” von 1936, in dem die Puppe Abenteuer bei den Olympischen Spielen erlebt. Auf Fotos des Büchleins ist die typische Frisur der “Inge”-Puppe leicht zu erkennen. Sie entwickelte sich in Zusammenhang mit den Olympischen Spielen 1936 unter dem Spitznamen “Olympia-Rolle” sogar zu einer Modeerscheinung und wird heute noch als eine typische Frisur für die Zeit angesehen. Bereits vor 1935 gab es das Schildkröt-Kind “Hans” in einer Edition als Hitler-Junge in Uniform gekleidet – es gab also für die Vorstellung eines “arischen” Ideals als Puppe eine männliche Entsprechung.

Der Konkurrenzhersteller Cellba hat anlässlich der Olympischen Spiele 1936 eine der “Inge” zum Verwechseln ähnliche Puppe hergestellt, die aber eine etwas andere Frisur hat.

“Inge” wurde bis Anfang der 1960er Jahre aus Zelluloid hergestellt, aus Tortulon gab es diesen Puppentyp nicht. Um verschiedene Zielgruppen und Käuferschichten zu erreichen, waren die Schildkröt-Kinder in verschiedenen Größen und Ausstattungen erhältlich – zum Beispiel mit aufgemalten Augen sowie mit Schlafaugen. Allerdings waren Schildkröt-Puppen grundsätzlich nicht preiswert. Die hier gezeigten Puppen sind die aufwändigsten Versionen ihres Typs, die nur für wohlhabende Familien erschwinglich waren. 1952 kostete “Inge” laut einer Preisliste für Händler 39,50 DM exklusive der damaligen Mehrwertsteuer von ca. 4 %. Wenn man berücksichtigt, dass z.B. ein Facharbeiter im textilverarbeitenden Gewerbe im Monat durchschnittlich 368 DM verdiente, war das ein hoher Betrag. Die hier gezeigte “Strampelchen”-Puppe kostete laut derselben Liste 29 DM. Einfache Schildkröt-Puppen waren allerdings schon zu Preisen unter 1 DM zu haben.

Die frühen Versionen beider Puppen wurden unbekleidet bzw. in einer einfachen sogenannten “Windelhose” angeboten. Ab 1939 wurden auch bekleidete Puppen angeboten, die einen Anhänger “mit original Schildkröt-Kleid” trugen. So hatte der Hersteller in den vorhergehenden Jahren noch mit einem eigenen Katalog bei seinen Händlern für die Vorteile von bekleideten Puppen geworben.

Die beiden Puppen ermöglichen Betrachter*innen eindrücklich die wechselvolle Geschichte der Schildkröt-Produktion nachvollziehen, von Zelluloid zu Tortulon, vom Kaiserreich über die NS-Zeit bis in die Produktionszeit der vorliegenden beiden Puppen, den 50er Jahren.
Felicitas Blanck

Quellen:
Spielzeugausstellung↗ (umfangreiche Informationen zu Schildkrötpuppen, auch historische Kataloge)
20.Jahrhundert.de↗ (detaillierte Beschreibung der „Olympia-Rolle“ und Informationen zur Hintergrundgeschichte)
„Von den zwanziger zu den achtziger Jahren: Ein Vergleich der Lebensverhältnisse der Menschen“↗ (PDF), Statistisches Bundesamt, Mainz, 1987.